Man stelle sich einmal vor, Bayer Leverkusen würde den Transfer von Joshua Kimmich bekanntgeben. Viele Fans würden das für einen schlechten Aprilscherz halten. Ein Aufschrei ginge durch die Republik. Wenn man Bianca Rech, Abteilungsleiterin des FC Bayern, vor zwei Jahren gefragt hätte, ob der FC Bayern Lena Oberdorf verpflichten könnte, hätte Rech diesen Transferwunsch wohl ebenfalls in das Reich der Fabel verwiesen.
Seit dem heutigen Donnerstagmorgen ist nun aber klar: Lena Oberdorf wird ab Sommer das rot-weiße Trikot tragen und vom Serienmeister und Pokalsieger Wolfsburg nach München wechseln. Möglich machte das eine Ausstiegsklausel in Oberdorfs Vertrag, wie die Wölfinnenen auf ihrer Website mitteilten. Während der VfL Wolfsburg nach Felicitas Rauch (im Winter in die USA gewechselt) nun die zweite Nationalspielerin verliert, verstärkt sich der Rivale aus München qualitativ auf der Position im zentralen Mittelfeld. Stehen die Zeichen in der Frauen-Bundesliga nach dem Wechsel nun auf Wachablösung? Was bedeutet der Transfer für den FC Bayern, für Oberdorf selbst, für Wolfsburg und die Liga? Eine Einordnung.
Sichtweise Bundesliga:
Lina Magull, Marie Müller, Maximiliane Rall und eben Felicitas Rauch: Im Winter verließen vier Spielerinnen aus dem (erweiterten) DFB-Kader die Bundesliga. Lena Oberdorf, 22 Jahre, stand schon lange bei den Topvereinen in England und Spanien auf der Einkaufsliste. Dass Oberdorf der Bundesliga erhalten bleibt, ist wahrscheinlich die größere Überraschung als ein Transfer nach Süddeutschland. Die Bundesliga kämpft trotz der guten Europameisterschaft 2022 weiter um Anerkennung und Reichweite. Umso wichtiger ist es, dass man die Stars der Nationalmannschaft auch weiterhin in der Bundesliga sehen kann und man nicht den Eindruck einer Ausbildungsliga hinterlässt.
Sichtweise Wolfsburg:
Der VfL Wolfsburg steht vor einem Kader-Umbruch. Rauch hat den Verein verlassen, Alexandra Popp liebäugelt immer wieder mit dem Karriereende, der Vertrag von Marina Hegering läuft aus und nun wechselt Lena Oberdorf zum direkten Titelkonkurrenten nach München. Mit Janina Minge haben die Wölfinnen Anfang der Woche bereits einen Neuzugang bekanntgegeben. Minge, ebenfalls aktuelle Nationalspielerin, kommt ablösefrei vom SC Freiburg und könnte die Position von Oberdorf 1:1 übernehmen. In Freiburg wird Minge aktuell als Innenverteidigerin eingesetzt, auch auf der Achter-Position hat sie schon ihre Spuren hinterlassen und sich als torgefährliche Mittelfeldspielerin erwiesen.
Mit dem Oberdorf-Transfer entsteht in Wolfsburg nun eine große Lücke. Nicht nur auf dem Platz, sondern auch daneben. Oberdorf ist eines der Gesichter des VfL, sie ist absolute Stammspielerin, geht keinem Zweikampf aus dem Weg und mit ihren 22 Jahren international sehr erfahren. Eine solche Spielerin kann der VfL Wolfsburg im Sommer nicht verpflichten. Da es diesen Spielertyp kein zweites Mal gibt. Insofern müssen mehrere Spielerinnen wie Lena Lattwein, Chantal Hagel oder eben Janina Minge diese Rolle einnehmen.
Sichtweise FC Bayern:
Sydney Lohmann (Vertrag läuft aus), Sam Kerr, Sarah Zadrazil, Georgia Stanway: Man könnte meinen, der FC Bayern ist im zentralen Mittelfeld gut aufgestellt. Wozu benötigt man dann eigentlich Lena Oberdorf? Oberdorf gibt dem FC Bayern mehr taktische Variabilität. So könnte beispielsweise Georgia Stanway deutlich offensiver agieren, im Rücken von Zadrazil und Oberdorf geschützt, und Pernielle Harder die ein oder andere Verschnaufpause geben. Zudem feiert Zadrazil in wenigen Tagen ihren 31. Geburtstag. Die Verpflichtung von Oberdorf mit Vertrag bis 2028 ist auch ein bereits einleitender Generationenwechsel.
Sichtweise Lena Oberdorf:
Lena Oberdorf hat mit dem VfL Wolfsburg national alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt: Deutscher Meister, DFB Pokal-Sieger. Was noch fehlt ist die Champions League-Trophäe. Wie passend, dass auch die Frauen des FC Bayern diesen Titel noch nicht gewinnen konnten. Und auch wenn der FCB in der diesjährigen Gruppenphase unglücklich ausgeschieden sind, die Vorzeichen für einen Triumph in der Königsklasse sind in München einen Tick besser als in Wolfsburg. Dafür spricht der breite Kader, die Verpflichtungen von Harder und Eriksson und vermutlich spielt bei der Transferentscheidung auch der vergangene Sommer eine Rolle, als der VFL Wolfsburg in der Qualifikation zur Champions League am FC Paris scheiterte.
Oberdorf wechselt nun also die Seiten. Noch vor der EM 2022 gab sie zu Protokoll, dass sie sich einen Wechsel nach München nicht vorstellen könne. Vermutlich hätte das Bianca Rech damals auch bestätigt.